Rechtswidriges Demoverbot 2002


Vorbemerkung

Im Jahr 2002 verlegte die Versammlungsbehörde des Landes Berlin erneut, wie schon im Jahr 2001 (s.u.), einen in der Innenstadt angemeldeten Nazi-Aufmarsch nach Hohenschönhausen. Die von uns angemeldete Demonstration unter dem Motto "Keine Nazi-Aufmärsche in Hohenschönhausen" wurde dagegen verboten, obwohl diese vor der NPD angemeldet wurde.

Die von uns am 30. April 2002 eingelegten Rechtsmittel scheiterte damals sowohl vor dem Verwaltungs- als auch vor dem Oberverwaltungsgericht. (Aktenzeichen VG 1 A 124.02 und OVG 1 S 26.01) Das hat uns jedoch nicht davon abgehalten, diese Entscheidungen im nachhinein überprüfen zu lassen, was allerdings einige Zeit in Anspruch genommen hat.

Am 23. Februar 2005 erklärte das Verwaltungsgericht Berlin in einer sog. Fortsetzungsfeststellungsklage das Vorgehen der Versammlungsbehörde als rechtswidrig. Das Urteil wird in diesen Tagen rechtskräftig.

Das Urteil - Aktenzeichen VG 1 A 188.02

VERWALTUNGS GERICHT BERLIN

URTEIL Im Namen des Volkes

In der Verwaltungsstreitsache
des Herrn Mario Gartner

gegen

das Land Berlin, vertreten durch den Polizeipräsidenten in Berlin, Stab PPr - Stab 6 -‚Platz der Luftbrücke 6,12096 Berlin,

hat das VerwaLtungsgericht Berlin, 1. Kammer, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 23. Februar 2005 durch

den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts Dr. Rueß, den Richter am Verwaltungsgericht Marticke, den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Kiemann, die ehrenamtliche Richterin Weber und den ehrenamtlichen Richter Zöllner

für Recht erkannt:

Es wird festgestellt, dass der Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 29. April 2002 rechtswidrig war.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn der Kläger nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines ihm 2002 erteilten versammlungsrechtlichen Bescheides.

Per Fax meldete der Kläger am 6. März 2002 um 0.26 Uhr bei dem Polizeiprasidenten in Berlin für den 1. Mai 2002 eine Kundgebung zum Thema "Keine Naziaufmärsche in Hohenschönhausen" an. Die Kundgebung sollte in Hohenschönhausen an der Kreuzung Falkenberger Chaussee/Prendener Straße/Vincent-van-Gogh-Straße zwischen 10 und 14 Uhr mit erwarteten 200 Teilnehmern stattfinden.

Am selben Tage führte die Versammlungsbehärde ein Kooperationsgespräch mit der NPD durch, die am 24. Januar 2002 für den 1. Mai 2002 einen Aufzug vom Ostbahnhof zum Alexanderplatz angemeldet hatte. In einem "Konzeptpapier" der Versammlungsbehörde heißt es dazu: "Der erste Vorschlag (letztjähriger Streckenverlauf in Hohenschönhausen) wurde von Herrn Schwerdt [dem Bundesgeschäftsführer der NPD] akzeptiert: ... Maßnahmen Gegenversammlungen: Versammlung 'Gartner' [des Klägers] wird weggedrückt (Verhinderungsabsicht) zum Prerower Platz (Lindencenter)."

In einem Artikel des Neuen Deutschland vom 9. April 2002 war unter der Überschrift "Nazimarsch am 1. Mai soll blockiert werden" unter anderem zu lesen: "Um nicht unvorbereitet zu sein, falls die NPD-Route nach Hohenschönhausen verlegt würde, hat die 'Unabhängige Anlaufstelle für Bürgerlnnen' an zwei 'strategischen Orten des Neubaugebietes' für den 1. Mai Kundgebungen angemeldet — an der Kreuzung, wo im letzten Jahr die Abschlusskundgebung der NPD stattfand, sowie am Lindencenter."

Mit Fax vom 10. April 2002 erweiterte der Kläger seine Anmeldung zu einem Aufzug, der in der Zeit zwischen 10.00 und 17.00 Uhr mit etwa 500 Teilnehmern von der Kreuzung Falkenberger Chaussee/Prendener Straße/Vicent-van-Gogh-Straße über die Vincent-van-Gogh-Straße, die Seehausener Straße und die Pablo-Picasso-Straße bis zur Kreuzung Pablo-Picasso-Straße/ Falkenberger Chaussee führen sollte.

Am 29. April 2002 fand ein Kooperationsgespräch der Versammlungsbehörde mit dem Kläger über eine alternative Route statt, das ergebnislos blieb.

Mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom selben Tage untersagte der Polizeipräsident in Berlin die Durchführung des Aufzuges auf der angemeldeten Wegstrecke und ordnete an, dass die Versammlung an zwei anderen, zur Wahl gestellten Orten westlich des S-Bahnhofes Hohenschönhausen durchzuführen sei. Zur Begründung führte er aus, die Anmeldung sei im Zusammenhang mit einer Vielzahl von gleichgelagerten Versammlungsanmeldungen für das gesamte östliche Berliner Stadtgebiet zu sehen, die allesamt die Verhinderung eines möglichen Aufzuges der als rechtsextremistisch eingestuften NPD am 1. Mai 2002 in Berlin zum Ziel hätten. Im Berliner Stadtgebiet werde mittels Flugblatt massiv zur Verhinderung dieses Aufzuges aufgerufen. Das Flugblatt weise das Logo der als gewaltbereit eingestuften Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) auf. Darin heiße es unter anderem:

"Überlasst den Nazis nicht die Straße! Fight Fascism!" "Beteiligt euch an Blockaden!". Nach vorliegenden gesicherten Erkenntnissen habe die AAB zur Verhinderung des Aufzuges der NPD über zwei unverfängliche Anmelder Versammlungen zur Anmeldung gebracht. Einer davon sei der Kläger. Seitens linker Gegendemonstranten sei es immer wieder zu Gewalttätigkeiten gekommen, die zu regelrechten Straßenschlachten mit der Polizei ausgeartet seien, so am 12. März 2000 und zuletzt am 1. Dezember 2001. Am 1. Mai 2000 und 2001 sei es vor Ort nur deshalb nicht zu Ausschreitungen gekommen, weil eine strikte örtliche Trennung habe gewahrt werden können. Gleichwohl sei es am 1. Mai 2000 zu 180 Festnahmen sowie 300 Platzverweisen und am 1. Mai 2001 zu 23 Festnahmen und zu 477 Platzverweisen gekommen. Es sei fraglich, ob einer Versammlungsanmeldung, bei der die Verhinderung einer anderen Versammlung derart im Vordergrund stehe, überhaupt der Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit zukomme. Wenn die Versammlung überhaupt stattfinden könne, so nur in einer räumlichen Entfernung zum Aufzug der NPD, die ein direktes gewalttätiges Einwirken auf diesen unmöglich mache. Auf der als Alternative festgelegten Wegstrecke verbleibe dem Kläger die Möglichkeit, akustisch und visuell gegenüber der gegnerischen Demonstration Präsenz zu zeigen. Soweit damit in die für Versammlungen unter freiem Himmel bestehende freie Ortswahl des Anmelders eingegriffen werde, so müsse der Kläger sich dies wegen der erwiesenen Verhinderungsabsicht und der deshalb zu besorgenden Gewalttätigkeiten zurechnen lassen. Selbst wenn die Verhinderungsabsicht nicht vorläge, würde dies zu keiner anderen Entscheidung führen. Versammlungsrechtlich sei die Anmeldung des Klägers zeitgleich mit der der NPD eingegangen. Aufgabe der Versammlungsbehörde wäre es, in diesem Fall zwischen den widerstreitenden Gruppierungen eine praktische Konkordanz herzustellen, die die störungsfreie Durchführung beider Veranstaltungen ermöglichen würde.

Noch am gleichen Tag legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid ein und stellte beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, den die Kammer und das Oberverwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 30. April 2002 zurückwiesen (VG 1 A 124.02/OVG 1 5 26.02).

Mit der am 28. Juni 2002 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Anliegen weiter. Zur Begründung trägt er vor: Er gehöre nicht dem AAB an und habe die Versammlung in Abstimmung mit der "Unabhängigen Anlaufstelle für Bürgerlnnen Hohenschönhausen" und der "Initiative gegen Rechtsextremismus Lichtenberg/ Hohenschönhausen" angemeldet. Von derselben Initiative sei im Vorjahr eine Versammlung angemeldet worden, die am 1. Mai 2001 vollkommen friedlich und ohne Zwischenfälle in direkter Nähe zur Versammlung der NPD verlaufen sei. Tatsächlich sei es am 1. Mai 2002 nach einer Andacht vor der Kirche zu Wartenberg in unmittelbarer Nähe zum Aufzug der NPD zu vollkommen friedlichen Protesten gekommen. Die Auffassung des Beklagten, die Versammlung des Klägers falle nicht unter den Schutz des Art. 8 GG, sei unzutreffend. Die Anmeldung des Klägers sei vor der Anmeldung der NPD eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt habe die NPD ihren Aufzug noch im Stadtbezirk Mitte durchführen wollen. Der Kläger habe nicht ahnen können, dass die NPD ihren Aufzug in den Bezirk Hohenschönhausen verlegen würde. Die NPD hätte auf einen anderen Ort innerhalb oder außerhalb des Stadtbezirks ausweichen können. Es habe allgemein gegen die Vereinnahmung des öffentlichen Raumes im Stadtbezirk durch Rechtsradikale protestiert werden sollen. Im Übrigen sei die Auflage nicht angemessen gewesen. Entgegen der Behauptung des Beklagten sei der von der Versammlungsbehörde vorgeschlagene Kundgebungsort an der Brücke am Bahnhof Hohenschönhausen nicht geeignet gewesen, in Ruf- und Hörweite der NPD-Demonstration zu sein, weshalb der Kläger schließlich die Demonstration nicht habe stattfinden lassen. Er habe in Absprache auf seine Versammlung verzichtet, weil in der Zwischenzeit eine zweite Versammlung am Lindercenter genehmigt worden sei, die bis zur Falkenberger Chaussee bis zum Eingang des 5-Bahnhofes Hohenschönhausen habe vorrücken dürfen. Der Verwaltungsvorgang zur Versammlung der NPD zeige, dass der Beklagte selbst die durch den angegriffenen Bescheid bekämpfte Gefahrenlage herbeigeführt habe. Ob überhaupt Alternativvorschläge für die NPD-Kundgebung vorbereitet gewesen seien, sei nicht aktenkundig. Der angegriffene Bescheid, der eine zeitgleiche Anmeldung beider Veranstaltungen behauptet habe, suggeriere einen Abwägungsnotstand, der nie existiert habe. Ein versammlungsrechtlicher Haftungsverband "links" sei nach Aktenlage nicht ersichtlich.

Der Kläger beantragt,

festzustellen, dass der Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 29. April 2002 rechtswidrig war.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angefochtenen Bescheid aus dessen Gründen. Es habe eine unmittelbare Gefahr bestanden, da insbesondere die Antifa und AAB zu aktiven gewalttätigen Protesten gegen den NPD-Aufmarsch aufgerufen hätten. Bei Ausübung der praktischen Konkordanz gelte das Prinzip der Erstanmeldung nicht absolut. Die Veranstaltung der NPD sei bereits vom ursprünglich gewollten Ort nach Wartenberg verlegt worden, und es habe aus Sicht des Veranstalters keine andere befriedigende Alternative gegeben. Rechtsextreme Kreise versuchten regelmäßig, Versammlungen in der Innenstadt oder in solchen Gebieten zu veranstalten, in denen sie mit größtmöglichem Widerspruch zu rechnen hätten. Solche Veranstaltun-gen ließen sich nicht schützen und seien somit nicht durchführbar. Sodann müsse die Versammlungsbehörde eine Lösung finden, die einerseits den Sicherheitsbelangen, andererseits der versammlungsrechtlich geschützten Position der Rechtsextremen entgegenkomme. Gleichzeitig müssten die Belange der Gegendemonstrationen größtmöglich berücksichtigt werden. Die "linken" Kräfte wüssten, dass Rechtsextreme jeweils zum 1. Mai in Berlin Veranstaltungen planten. Um das zu verhindern, würden mögliche Veranstaltungsorte und -routen durch die Anmeldung von Veranstaltungen blockiert. Im Vorfeld des 1. Mai 2002 seien zwei Aufzüge und 32 Kundgebungen angemeldet worden, die als Gegenveranstaltungen zu der NPD-Veranstaltung anzusehen seien. Sie seien nahezu an allen Ortlichkeiten der Peripherie angemeldet worden, die für die NPD-Veranstaltung geeignet erschienen seien. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die NPD die östlichen Bezirke Berlins bevorzuge und auf eine gesicherte Möglichkeit der An- und Abreise mit der S-Bahn angewiesen sei. kaum eine der Gegenverartstaltungen sei tatsächlich durchgeführt worden, nachdem der Ort des Aufzuges der NPD bekannt geworden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Streitakte dieses Verfahrens und des Eilverfahrens sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten zu den Versammlungen des Klägers und der NPD am 1. Mai 2002 verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg.

Sie ist als Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 5. 4 VwGO zulässig, weil sich der in Streit stehende Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 29. April 2002 durch Zeitablauf erledigt hat. Dem Kläger kommt auch ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus dem möglichen erheblichen Eingriff in die in Art. 8 GG geschützte Versammlungsfreiheit und unter dem Aspekt des Rehabilitationsinteresses zu. Ein Verwaltungsakt, der rechtswidrig davon ausgeht, dass eine angemeldete Versammlung nicht unter den Schutz des Art. 8 GG fällt, stellt einen tiefgreifenden Eingriff in die Versammlungsfreiheit dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2004— 1 BvR 461/03—, NJW 2004, 2510). Ein Rehabilitationsinteresse ergibt sich daraus, dass dem Kläger unterstellt wird, er sei einer gewaltbereiten Gruppe — dem AAB — zuzuordnen und habe die Versammlung als deren Strohmann angemeldet.

Die Klage ist auch begründet. Der angegriffene Auflagenbescheid war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs 1 Satz 1 VwGO).

1. Der Beklagte hat nach Auffassung der Kammer im Hauptsacheverfahren zu Unrecht in Zweifel gezogen, ob die vom Kläger angemeldete Versammlung wegen einer Verhinderungsabsicht unter den Schutz der in Art. 8 GG verankerten Versammlungsfreiheit fällt.

Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG und dem Versammlungsgesetz sind örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 1989— 70 50/88—, BVerwGE 82, 34, 3Sf.). Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit erhält seine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung in der freiheitlich demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wegen seines Bezugs auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe die Bedeutung eines grundlegenden Funktionselements (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985— 1 BvR 233, 341/81 —‚ BVerfGE 69, 315, 343). Die Gestaltungsfreiheit des Trägers des Grundrechts der Versammlungsfreiheit beinhaltet das Recht der Selbstbestimmung über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung (BVerfG, a.a.O.). Allerdings umfasst das Selbstbestimmungsrecht nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Art. 8 GG schützt die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonstwie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 —1 BvR 1190/90—, BVerfGE 104, 92). Dementsprechend endet der Schutz des Art. 8 GG dort, wo es nicht um die Teilnahme an einer Versammlung geht, sondern um deren Verhinderung. Wer eine Versammlung in der Absicht aufsucht, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, kann sich nicht auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen, selbst wenn er im Verein mit anderen auftritt (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1991 — 1 BvR 772/90 —‚ BVerfGE 84, 203, 209).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe genießt auch eine Gegendemonstration den vollen Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, solange sie sich kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich dem Zweck dient, die Ver-anstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern. Es kann niemandem verwehrt werden, eine Versammlung an einem Ort durchzuführen, an dem er die Anmeldung einer anderen Versammlung vermutet, gegen deren Ver-anstalter oder Ziele er sich mit einer eigenen Demonstration wendet. Der Schutz des Art. 8 GG endet erst dort, wo die andere Veranstaltung gleichsam im Wege der "Selbsthilfe mit Gewalt, deren Androhung oder groben Störungen, die nach § 21 VersG strafbar sind, physisch verhindert werden soll (vgl. dazu VG Hamburg, Be-schluss vom 9. Juli 1999—20 VG 2653/99—, NordOR 2000, 114) oder wo flächendeckende Anmeldungen ausschließlich zu dem Zweck erfolgen, die bekämpfte Veranstaltung zu verhindern (vgl. dazu VGH Mannheim, Beschluss vom 30. April 2002 — 1 5 1050/02—, juris), die angemeldete Veranstaltungen in Wahrheit aber gar nicht durchgeführt werden sollen (Scheinanmeldungen). Die oben zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verhinderungsabsicht kann nicht unbesehen für die Beurteilung der Zulässigkeit von Gegendemonstrationen herangezogen werden. Denn sie bezog sich nicht auf Gegendemonstrationen, sondern auf den Fall, dass sich Gegner einer Versammlung unter deren Teilnehmer mischen. Dazu führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass eine unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallende Teilnahme die Bereitschaft verlange, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen. Dies kann aber nicht bedeuten, dass eine Gegendemonstration schon dann dem Schutz des Art 8 GG entzogen wäre, wenn sie auch das Ziel verfolgt, mit der Versammlung den angemeldeten Versammlungsort physisch in Beschlag zu nehmen. Denn dass zu den zulässigen kommunikativen Mitteln einer Versammlung auch die physische Präsenz an einem bestimmten Ort gehört, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Sitzblockaden den Schutz der Versammlungsfreiheit genießen (BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 1992— 1 BvR 88/91 u.a. —‚ BVerfGE 87, 399, 406). Solange die Gegendemonstration friedlich und mit kommunikativen Mitteln tatsächlich durchgeführt werden soll, hat die zuständige Versammlungsbehörde den möglichen Konflikt mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit der Teilnehmer der von den Gegendemonstranten abgelehnten Versammlung im Wege der praktischen Konkordanz zu lösen, wobei die zeitliche Priorität der Anmeldungen eine wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Rolle spielt. Im Rahmen dieses Interessenaus-gleichs kann auch berücksichtigt werden, dass eine größere Zahl von Gegende-monstrationen an strategischen Orten auch mit den Ziel angemeldet worden ist, den Streckenverlauf eines bekämpften Aufzuges zu durchkreuzen.

Im vorliegenden Fall stand die vom Kläger angemeldete Versammlung unter dem Schutz des Art. 8 GG.

Der Beklagte musste davon ausgehen, dass der Kläger eine friedliche Versammlung angemeldet hatte, selbst wenn bei einer Durchführung der Demonstration der NPD in Hohenschönhausen aufgrund der vom Beklagten angeführten Aufrufe und der Erfahrungen mit früheren Gegendemonstrationen gegen Aufzüge der NPD mit der Teilnahme gewaltbereiter Demonstranten zu rechnen war. Steht nicht zu befürchten, dass eine Demonstration im Ganzen einen unfriedfichen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985— 1 BvR 233/81 u.a. —‚ BVerfGE 69, 315). Hier hatte der Kläger die Demonstration nach den zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides am 29. April 2002 vorliegenden Erkenntnissen für eine "Unabhängige Anlaufstelle für Bürgerlnnen" in Hohenschönhausen angemeldet (vgl. die im Verwaltungsvorgang befindliche Meldung des Neuen Deutschland vom 9. April 2002). Diese Gruppe hatte bereits im Vorjahr 2001 in Höhenschönhausen mit friedlichen Mitteln gegen den damaligen Aufmarsch der NPD demonstriert. Für die im Bescheid behauptete Verbindung des Klägers zum gewaltbereiten AAB finden sich im Verwaltungsvorgang keine Anhaltspunkte. Solche hat der Beklagte auch im späteren Verfahren nicht dargelegt.

Es handelte sich ferner nicht um eine Scheinanmeldung, die ausschließlich den Ziel gedient hätte, den Aufzug der NPD in Hohenschönhausen im Vorfeld zu blockieren. Es hätte sich dem objektiven Betrachter nach der damals bestehenden Sachlage an Hand von Indizien die Einschätzung aufdrängen müssen, dass es sich um eine bloße "Verhinderungsanmeldung" gehandelt hat. Dies ist aber im Ergebnis nicht der Fall. Dass der Aufzug des Klägers auf der Strecke durchgeführt werden sollte, auf der die NPD im Vorjahr demonstriert hatte, könnte zwar für eine Verhinderungsabsicht sprechen, reicht aber allein nicht aus, weil eine Versammlung gerade wegen des Aufmarsches im Vorjahr an diesem Ort ernsthaft beabsichtigt gewesen sein kann. Zwar gab es flächendeckende Gegenanmeldungen zur NPD-Demonstation. Denn es waren, wie der Beklagte näher ausgeführt hat, für den 1. Mai 2002 zwei Aufzüge und 32 Kundgebungen an strategischen Punkten im östlichen Stadtgebiet Berlins angemeldet worden. Um die Versammlung des Klägers aber aus diesem Grunde als Scheinanmeldung mit ausschließlicher Verhinderungsabsicht qualifizieren zu können, müsste sich der Kläger das Verhalten sämtlicher anderen Anmelder zurechnen lassen. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn die verschiedenen Anmelder derselben Organisationsstruktur zuzurechnen wären oder abgestimmt und koordiniert gleichsam mit verteilten Rollen aufgetreten wären. Hier konnte der Beklagte aber die vom ihm vertretene "Lagertheorie" nicht näher mit tatsächlichen Erkenntnissen belegen. Ein Zusammenhang der Anmeldung des Kläger beispielsweise zu sieben von der PDS-Marzahn-Hellerdorf, sieben von der PDS Treptow-Köpenick oder zehn von der SPD-Marzahn-Hellersdorf angemeldeten Kundgebungen ist nicht ersichtlich und drängt sich auch nicht auf. Vom Kläger eingeräumt und aus dem Artikel des Neuen Deutschland vom 9. April 2002 bekannt war allein das koordinierte Vorgehen des Klägers mit der von der Evangelischen Kirchengemeinde Hohenschönhausen-Nord angemeldeten Kundgebung "NPD-Verbot sofort" am Lindencenter/Prerower Platz, die dann auch am 1. Mai 2002 tatsächlich durchgeführt wurde. Gegen eine Scheinanmeldung des Klägers sprach der enge örtliche Bezug zu Hohenschönhausen, der sich auch über die lnternetseite der vom Kläger vertretenen Gruppierung hätte näher recherchieren lassen Nach Angaben des Beklagten ist der Kläger nicht durch vorangegangene Scheinanmeldungen aufgefallen Die Behauptung, der Kläger stehe in Verbindung zum AAB, hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht mehr aufrecht erhalten. Schließlich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass die Versammlung — wenn auch mit geringerer Teilnehmerzahl — selbst dann hätte durchgeführt werden sollen, wenn der Aufzug der NPD nicht nach Hohenschönhausen verlegt worden wäre. Dafür spricht aus heutiger Sicht, dass eine vergleichbare Versammlung im Folgejahr in Hohenschönhausen durchgeführt wurde, obwohl die NPD in jenem Jahr dort nicht demonstrierte.

2.    Die Verfügung, mit der die Durchführung des Aufzuges des Klägers am angemeldeten Ort untersagt wurde, war nicht durch die Ermächtigungsgrundlage des § 15 Abs. 1 VersG gedeckt. Danach kann eine Versammlung oder ein Aufzug von der zuständigen Behörde verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Veranstaltung unmittelbar gefährdet ist. Zwar hat der Beklagte nach Überzeugung der Kammer zutreffend die Gefahrenprognose gestellt, dass es am 1. Mai 2002 ohne eine strikte räumliche Trennung zwischen dem Aufzug der NPD und der Gegende-monstration mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigen Übergriffen gekommen wäre. Der Kläger konnte aber nicht - wie geschehen - mit einer versammlungsrechtlichen Auflage zur Beseitigung der Gefahr herangezogen werden.

a)    Der Beklagte konnte den Kläger nicht als Störer in Anspruch nehmen.

Das Bundesverfassungsgericht hat Grundsätze dazu entwickelt, wie bei konkurrierenden Anmeldungen im Konflikt zwischen (zuerst angemeldeter) Demonstration und einer Gegendemonstration, von der Gewalt droht, vorzugehen ist. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so besteht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Die behördliche Maßnahmen müssen sich primär gegen den Störer richten. Grundsätzlich kann der Erstanmelder nicht als Zweckveranlasser und Störer, sondern nur unter den besonderen Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden. Es ist Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteilicher Weise auf die Verwirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken (BVerfG, Beschluss vom 1. September 2000 — 1 BvO 24/00 —‚ NVwZ 2000, 1406). Nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz sind die in Kollision befindlichen Grundrechte der Teilnehmer beider Versammlungen einander so zuzuordnen, dass beide bei allen notwendigen Begrenzungen möglichst optimal wirksam bleiben (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 13. Auflage 2004, § 15 Rdnr. 98). Unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss die Versammlungsbehörde insoweit auch prüfen, ob ein polizeilicher Notstand durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurch den konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln.

Im vorliegenden Fall meldete der Kläger seine Versammlung an demselben Tag an, an dem der Aufzug der NPD mit deren Einverständnis an denselben Ort verlegt wurde, was rechtlich als neue Anmeldung gewertet werden kann, so dass die Konkordanzregei zunächst einzugreifen scheint. Hier besteht aber die Besonderheit, dass die NPD ihren Aufzug ursprünglich für einen anderen Ort angemeldet hatte und die konkurrierende Anmeldung der NPD erst auf Vorschlag der Versammlungsbehörde in Kenntnis der Anmeldung des Klägers erfolgt ist. Die Grundvoraussetzung der praktischen Konkordanz, bei der es um einen Ausgleich zwischen verschiedenen gleichrangigen Rechtsgütern und Rechten Privater geht, entfällt aber, wenn der örtliche Konflikt zwischen mehreren Versammlungen durch das Eingreifen der Versammlungsbehörde überhaupt erst entsteht. Die Versammlungsbehörde ist nicht berechtigt, den Anmelder einer Versammlung als Störer in Anspruch zu nehmen, indem sie die Versammlung durch eine andere, aus Sicherheitsgründen am ursprünglichen Ort nicht durchführbare Versammlung verdrängt („wegdrückt“). Überspitzt formuliert, hat die Ordnungsbehörde die im Bescheid vom 29. April 2002 bekämpfte Gefahr selbst geschaffen und war damit selbst „Störer“.

b)    Auch die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme des Klägers als Notstandspflichtigem oder Nicht-Störer lagen nicht vor. Voraussetzung wäre, dass die Inanspruchnahme zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr erforderlich ist, Maßnahmen gegen Störer keinen Erfolg versprechen und die Gefahr nicht durch die Polizei selbst abgewehrt werden kann (vgl. § 16 Abs. 1 ASOG). Dabei müsste zudem eine ermessensfehlerfreie Auswahl zwischen der Inanspruchnahme mehrerer in Betracht kommender Nicht-Störer getroffen werden. Das war hier nicht der Fall. Der Beklagte ist von einer unzutreffenden rechtlichen Einordnung des Sachverhalts ausgegangen, indem er annahm, dass der Kläger sich nicht auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen oder jedenfalls ohne weiteres als Störer in Anspruch genommen werden könne.

Die Kammer verkennt nicht die Schwierigkeiten, denen sich die Versammlungsbehörde bei der praktischen Lösung für den Standort von Demonstrationen der NPD mit einer Vielzahl angemeldeter Gegendernonstrationen gegenübersieht. Dabei ist die Versammlungsbehörde nicht auf eine bloß passive Rolle beschränkt, sondern hat aktiv nach Lösungen zu suchen und darf unter strikter Wahrung ihrer Unparteilichkeit auch alternative Wegstrecken ins Gespräch bringen. Soweit eine Inanspruchnahme als Störer nicht in Betracht kommt, hat sie bei der Auswahl zwischen der Inanspruchnahme verschiedener Nicht-Störer aber alle ernsthaft in Betracht kommenden Alternativen zu prüfen. Im vorliegenden Fall hätte sie sehr wohl berücksichtigen dürfen, dass die NPD bereits wegen der Verlegung des VersammIungsortes als Nicht-Störer in Anspruch genommen wurde, und sie hätte auch den von der NPD geäußerten örtlichen Präferenzen ein gewisses Gewicht beizumessen gehabt. Sie hätte aber vor einer Inanspruchnahme des Klägers prüfen müssen, ob nicht auch andere Standorte ernsthaft in Betracht gekommen wären, für die keine Gegendemonstrationen angemeldet waren oder bei denen die Inanspruchnahme anderer Anmelder von Gegendemonstrationen mit geringfügigeren Eingriffen in deren Recht auf Versammlungsfreiheit verbunden gewesen wäre. So hätte es im vorliegenden Fall eine weniger schwerwiegende Beschränkung der Versammlungsfreiheit bedeutet, wenn die SPD-Marzahn-Hellerdorf, die PDS-Marzahn-Helierdorf oder die PDS-Treptow-Köpenick auf eine ihrer vielen angemeldeten Kundgebungen hätten verzichten müssen, abgesehen von der Frage, ob es sich insoweit nicht um Scheinanmeldungen gehandelt hat. Für eine Prüfung dieser sich aufdrängenden Alternativen findet sich in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen kein Hinweis.

Die Berufung war gemäß § 124 a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Die grundlegende, eine Vielzahl von Veranstaltungen betreffende Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Gegendemonstration wegen Verhinderungsabsicht nicht in den Schutzbereich des Art. 8 GG fällt, ist bislang in Hauptsachverfahren weder obergerichtlich noch höchstrichterlich geklärt.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 167 VwGO in Ver-bindung mit §~ 706 Nr. 11, 711 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht Berlin zu.

Die Berufung ist bei dem Verwaltungsgericht Berlin, Kirchstraße 7,10557 Berlin, innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.   

Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. Die Begründung ist, nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin, Hardenbergstraße 31, 10623 Berlin, einzureichen. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).

Für daaBerufungsverfahren besteht Vertretungszwang. Danach muss sich jeder Beteiligte durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen.

    Dr. Rueß                                VRiVG Kiemann                               Marticke
       








2002
NPD-Aufmarsch in Hohenschönhausen


2001
Massive Einschränkung des Versammlungsrechtes für DemonstrantInnen gegen den NPD-Aufmarsch in Hohenschönhausen


Hohenschönhausener Mahnwache gegen den NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2001
Kurze Nachbereitung und Beitrag zur Diskussion zum Thema Versammlungsfreiheit und Bürgerrechte

Vorgeschichte

Nach Bekanntwerden der Verlegung des NPD-Aufmarsches zum 1. Mai 2001 nach Hohenschönhausen haben Hohenschönhausener Bürgerinnen und Bürger am 28. April 2001 ihre MitbürgerInnen aufgerufen, an der Aufmarschstrecke fantasievoll ihren Protest zu demonstrieren und sich zu einer Mahnwache „Hohenschönhausen macht mobil gegen rechte Gewalt“ in Sichtweite des Aufmarsches zu versammeln.
Diese Mahnwache wurde am selben Tag bei der Versammlungsbehörde angemeldet.

Die Verbotsverfügung der Polizei ging uns am 30. April 2001 zu.

Wir haben Rechtsmittel gegen die Verbotsverfügung eingelegt, und am Abend des 30. April 2001 wurde das polizeiliche Verbot der Mahnwache durch Beschluss des Verwaltungs
gerichts Berlin aufgehoben.

Der ursprünglich geplante Ort der Mahnwache (Warnitzer Bogen) wurde zwar nicht genehmigt, den von der Polizei ins Gespräch gebrachten Alternativstandort Woldegker/Ecke Neubrandenburger Straße konnten wir akzeptieren. Er wies eine so hinreichende Nähe zum geplanten NPD-Aufmarsch auf, dass ein thematischer Bezug nicht völlig leer laufen musste, wie uns auch durch das Urteil des Verwaltungsgerichts zugesichert wurde.

Tatsachen

1. Die Mahnwache fand am 1. Mai 2001 in der Zeit von 9.00 bis 14.00 Uhr statt und hatte in der Spitze etwa zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
2. Von Beginn an wurden Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus anderen Wohnbereichen zur Mahnwache gelangen wollten, durch die Polizeisperren massiv daran gehindert. Ein Großteil von ihnen wurde bereits im Vorfeld abgefangen beziehungsweise ihnen wurde die Teilnahme verwehrt.
3. Gruppen von mehreren Personen, die mit Bezug auf den Verwaltungsgerichtsbeschluss auf ihrer Teilnahme an der Mahnwache bestanden, wurden auf ihrem Weg dorthin von der Polizei eskortiert.
4. Bereits ab 10.30 Uhr wurden an den Polizeisperren potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der Begründung abgewiesen, die Mahnwache sei aufgelöst worden.
5. Während der Mahnwache wurden teilnehmende Bürgerinnen und Bürger durch die Polizei fotografiert.
6. Zeitweise wurden unmittelbar am Ort der Mahnwache unbegründete Absperrungen durch die Polizei vorgenommen, die erst nach unserer Intervention wieder rückgängig gemacht wurden.
7. Losungen und Transparente gegen den NPD-Aufmarsch, die von Bürgerinnen und Bürgern an der vorgesehenen Aufmarschstrecke angebracht (zum Beispiel die Transparente, die mit Genehmigung des Landeschulamtes an der Reuter-Gesamtschule angebracht worden waren) beziehungsweise die von Teilnehmerinnen und Teilnehmern mitgeführt wurden, hat die Polizei entfernt.
8. Last but not least: Die kurzfristige Veränderung und Einschränkung der Route des NPD-Aufmarsches, wodurch ihr „großer Marsch“ durch Hohenschönhausen nicht erfolgte, ist an sich zu begrüßen.
Auf der anderen Seite konnten wir das uns per Verwaltungsgericht zugestandene Recht, in hinreichender Nähe zum Aufmarschort der NPD durch eine Mahnwache gegen diesen zu protestieren, nicht entsprechend wahrnehmen. Die Mahnwache befand sich, entgegen unserer auch durch das Verwaltungsgericht genehmigten Intention, de facto außerhalb des Bereiches des NPD-Aufmarsches. Das uns bescheinigte Recht wurde faktisch unterlaufen.

H.L. als Anmelderin      Berlin, 3. Mai 2001

Die Gerichte - Presseerklärung des Verwaltungsgerichtes Berlin

Nr. 16/2001: 1 . Mai 2001 – Eilverfahren der Anmelderin der Mahnwache zum Thema „Hohenschönhausen macht mobil gegen den NPD-Marsch“ hat Erfolg
 

Das Verwaltungsgericht Berlin hat heute am Abend einen weiteren Eilbeschluss im Zusammenhang mit dem 1. Mai gefasst. Zum 1. Mai 2001 sind damit insgesamt 11 Entscheidungen getroffen worden, 9 davon allein über heute eingegangene Anträge (vgl. Pressemitteilungen Nr. 14/2001 und 15/2001).

Gegenstand des vorliegenden Eilverfahrens war die in der Zeit zwischen 9.00 und 15.00 Uhr geplante Mahnwache zum Thema „Hohenschönhausen macht mobil gegen den NPD-Marsch“. Der Polizeipräsident in Berlin hatte durch einen Bescheid vom 30. April 2001 verfügt, dass die Mahnwache nur in erheblicher Entfernung zum NPD-Aufmarsch stattzufinden habe, weil die Polizei befürchtete, dass sich unter die friedlichen Teilnehmer der Mahnwache gewaltbereites Störerpotenzial aus dem linksextremistischen Bereich mischen und so die Teilnehmer des zeitgleichen NPD-Aufmarschs durch gewalttätige Aktionen - insbesondere etwa das Werfen von Gegenständen - in für die Polizei nicht mehr kontrollierbarer Weise gefährden könnte. Die zuständige 1. Kammer des Verwaltungsgerichts entschied demgegenüber, dass die Mahnwache an der Woldegker Straße/Ecke Neubrandenburger Straße stattfinden darf. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten sei ein weiter entferntes Areal zur Verhinderung der genannten Gefahren bei nicht geboten. Vielmehr könne nach Überzeugung der Kammer der Gefahr gewaltsamer Übergriffe auf NPD-Anhänger durch Personen, die sich unter die Mahnwache mischen und diese zum Vorwand eigener Aktionen nehmen könnten, wirksam begegnet werden, wenn die Mahnwache an dem vom Gericht bezeichneten Ort stattfinde. Abgesehen davon, dass dieser Ort im Rahmen der Kooperationsgespräche offenbar zunächst von der Polizei selbst ins Gespräch gebracht worden sei, weise er noch eine so hinreichende Nähe zum NPD-Aufzug auf, dass der thematische Bezug der Mahnwache nicht völlig leer laufe, er aber andererseits so weit von diesem entfernt sei, dass den Einsatzkräften der Polizei eine Unterscheidung zwischen Teilnehmern der stationären Mahnwache und potenziellen Gewalttätern, die sich hiervon erst räumlich absetzen müssten, hinreichend sicher möglich bleibe.

Beschluss der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. April 2001 - VG 1 A 146.01 -

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